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Die teuflische Fratze der Angst: Klare Gedanken und planbares Handeln nicht mehr möglich

Notfallprogramme Flucht, Angriff oder Erstarrung – oder zurück zur Selbstbestimmung? 

Angst, vor die Tür zu gehen, Angst, geliebte Menschen zu verlieren, Angst vor dem Tod, Jobverlust oder Ausgrenzung – Angst hat viele Gesichter und in der Corona-Zeit zeigt sie erst recht ihre teuflische Fratze. 

Angst, der ständige Begleiter? Was wäre das Leben ohne dieses Gefühl? Was wäre, wenn wir keine Angst oder Furcht mehr hätten? Und wie sieht es mit der Selbstbestimmung aus, wenn uns das Gefühl der Angst umgibt?

Eines ist klar: Wir stammen nicht von denen ab, die keine Angst oder Furcht hatten! Denn sie hätten einfach die Aussicht genossen, während der Säbelzahntiger sich ihrer angenommen hätte. Also was macht die Furcht aus, weshalb hat uns die Evolution dieses Gefühl mitgegeben?

Als erstes eine Begriffsbestimmung: Oftmals vermischen sich die Begriffe wie Furcht und Angst und werden alltagssprachlich gleich verwendet. Wann haben wir Furcht, wann haben wir Angst? Es gibt in der Wissenschaft viele Erklärungsversuche. Eine davon lautet: Furcht ist ein Warnsignal für eine unmittelbare Gefahr, die Angst hingegen ist gekennzeichnet dadurch, dass das Ausmaß und der Zeitpunkt der Gefahr ungewiss sind. Man könnte es auch so ausdrücken: Die Furcht taucht auf einmal auf und die Angst ist allgegenwärtig. Eines haben beide jedoch gemeinsam: Sie dienen als Schutz- und Überlebensmechanismus! 

Was muss im Vorfeld passieren, damit uns die Furcht heimsucht? Prof Dr. Gerald Hüther beschreibt den Vorgang wie folgt (siehe Abb. 1): Ein Außenreiz wird wahrgenommen und das Gehirn prüft, ob das, was passiert, mit seinen Erwartungen übereinstimmt. Passiert etwas anderes, als das Erwartete, wird genauer hingeschaut. 

Das Großhirn kommuniziert umgehend mit dem Mittelhirn (limbisches System = Sitz der Gefühle) und schaut nach, ob Erfahrungen vorhanden sind. Wird das Neue als bedrohlich bewertet, kommt Unruhe ins Hirn. Klare Gedanken und planbare Handlungen sind dann nicht mehr möglich. 

Wird die Über-Erregung noch größer, rutschen wir in den Gehirnbereich des sogenannten Stammhirns ab. Auch Reptilienhirn genannt, ist es der älteste Bereich des Gehirns und hält für solche Gefahren ein Notfallprogramm bereit. Angriff, Flucht oder ohnmächtige Erstarrung stehen als Bewältigungsstrategien zur Option. 

Bevor eine der Optionen anlaufen kann, aktiviert das Gehirn die sogenannte Stress-Achse. Einfacher ausgedrückt: Der Körper geht in Alarmbereitschaft und macht sich bereit, in Form einer Steigerung des Blutdrucks und der Atemfrequenz, der Freisetzung von Hormonen, verstärkter Durchblutung der Muskulatur, Bronchienerweiterung, optimal vorbereitet zu sein. Das passiert alles in einer kurzen Zeitspanne. Oftmals tendiert der Organismus zuerst zu Angriff, dann wird entschieden, ob die Vorgehensweise erfolgversprechend ist. Wenn nein, bleiben immer noch die Flucht oder die Erstarrung als mögliche Alternativen, um der drohenden Gefahr auszuweichen. 

Heute ist es nicht mehr der Säbelzahntiger, der uns bedroht, aber andere Übergriffe können denselben Reflex auslösen. Furchtauslöser heutzutage sind bevorstehende Prüfungen, Vorstellungsgespräche, wenn wir einen Vortrag halten müssen oder ein wichtiger Wettkampf bevorsteht. Auch solche Herausforderungen können im Großhirn Über-Erregungen provozieren, genau wie bei einer realen Gefahr. Ein Abrutschen in das Stammhirn ist dann nicht zu vermeiden und wie wir wissen, sind wir dann nur noch fixiert auf Flucht, Angriff oder Erstarrung.

Andere Fähigkeiten des Gehirns wie Denken, Kreativität oder Planen bleiben wie bei einer realen Gefahr auf der Strecke. Dies alles läuft unbewusst ab, denn bei einer Prüfung geht es nicht wirklich ums Überleben, hat aber dennoch eine große Wirkung. Wenn man bedenkt, dass das Sprachzentrum im Bereich des Großhirns angelegt ist, wundert es nicht, dass bei großer Aufregung die Sprache versagt. 

Auch wenn gerade keine akute Bedrohung besteht, können bestimmte Vorstellungen oder Zukunftsphantasien als gefährlich eingeschätzt werden, wie etwa in der aktuellen Corona-Krise. 

Auch hier reagiert der Organismus – wenn auch nicht ganz so schnell und extrem, dafür langsamer und länger anhaltend – mit physiologischen Symptomen wie Herzklopfen, Anstieg des Blutdrucks, schneller Atmung, Schwäche oder Schwindelgefühl. Jeder Mensch ist individuell und wird die Angst entweder als körperliches Symptom, wie beschrieben, oder psychosomatisch, etwa in Form von Befürchtungen oder Verzweiflung wahrnehmen. Im Gegensatz zur Furcht überwiegt beim Angstgefühl immer die Ungewissheit. 

Wir halten dadurch immer einen gewissen Stress-Pegel, der, wenn es zu lange dauert, chronisch werden kann. 

Bei einer realen Angst haben wir sofort Handlungsalternativen, und das, ohne groß zu überlegen. In unklaren, nicht akuten Situationen jedoch versuchen wir, kognitiv aus dieser Angst heraus zu finden. Wir kompensieren dabei die Über-Erregung durch alte Muster aus der Kindheit, wie z.B. Türen schlagen, rumschreien. Andere fangen an, aufzuräumen oder arrangieren sich mit der Situation. Wenn uns dann noch klar wird, dass unser selbstbestimmtes Handeln eingeschränkt oder unmöglich geworden ist, die Angst in den Griff zu kriegen, verlieren wir nicht nur Souveränität und Selbstbestimmung, sondern es verstärkt gleichzeitig die Angst.

Wenn wir die Angst aber doch benötigen, um zu überleben, warum ist diese Gefühl so negativ besetzt? Würde sich etwas ändern, wenn wir den Begriff der Angst neu besetzen, um zu unserer Selbstbestimmung zurückzukehren? Würde es helfen, wenn wir verstehen, dass wir es sind, die die Angst in uns erzeugen? 

Einen Lösungsansatz bietet Dr. Arnold Retzer. Der Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie betont, dass die Einstellung des Betroffenen einen großen Einfluss hat. Denn wer die Angst als Feind assoziiert, findet wenig Möglichkeiten, dieser auf Dauer zu entkommen. Je stärker wir etwas in uns bekämpfen, desto mehr Aufmerksamkeit und Energie widmen wir schließlich diesem Zustand. 

In “Cells that fire together wire together“ schreibt Prof. Dr. Donald Olding Hepp (Kanada): Je häufiger eine bestimmte Nervenzelle gleichzeitig mit einer anderen Nervenzelle aktiv ist, umso bevorzugter werden die beiden aufeinander reagieren Anders ausgedrückt: Je mehr wir unseren Fokus auf ein Problem ausrichten, umso stabiler wird das Problem aufrecht erhalten. 

Retzer empfiehlt Betroffenen, die Beziehung zur Angst durch Externalisierung zu ändern. Das bedeutet, die Angst zu “personifizieren”: Wie könnte die Angst aussehen, wenn sie eine Person wäre? Wo würde sie im Raum stehen (ganz nah, hinter uns oder weiter entfernt?), wenn sie mal wieder anwesend ist?

Damit gelingt es dem Betroffenen, seine Sichtweise zu verrücken, nämlich quasi von außen auf die Angst zu schauen und in eine sogenannte Meta-Position zu kommen. Im Gegensatz zu anderen Methoden, wollen wir die Angst nicht “weg” haben, sondern als Kompetenzkraft beibehalten. 

Anders mit ihr umzugehen, ist das Ziel. Denn Angst hat nicht nur eine wichtige Schutzfunktion, sondern sie macht uns auf uns selbst aufmerksam. Wenn wir merken, dass wir Einfluss auf dieses Gefühl haben, ebnet dies den Weg zurück zur Selbstbestimmung. Dann können noch so viele Krisen kommen, aber eines werden sie nicht mehr – uns fremdsteuern! 

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt der Heidelberger Dr. Gunther Schmidt. Das Erleben einer Situation geht immer mit einem Raum-Erleben einher. Verändern wir in unserer inneren Wahrnehmung den Raum, wo die Angst ihren Sitz hat, verändert sich automatisch auch unsere Beziehung zu dieser. 

Tipp: Visualisieren Sie vor Ihrem inneren Auge, wo Sie die Angst wahrnehmen. Sehen Sie die Angst direkt vor sich, platzieren Sie diese dann räumlich z.B. nach hinten rechts und schauen Sie, welche Auswirkung dies haben könnte. Jeder ist natürlich individuell und bestimmt die Raumwahrnehmung selber.  

Auch Schmidt plädiert dafür, die Angst nicht zu verbannen, sondern als Kompetenzbegleiter weiter wirken zu lassen, aber mit dem Unterschied, das wir bestimmen, wo sie sich im Raum Angst aufhält. 

Schmidt erklärt, dass jede bedrohliche Situation mit einer Veränderung der Körpersprache einhergeht. Der Kopf hängt runter, die Schultern nach vorne gesenkt, es entsteht ein Tunnelblick, die Schritte sind kurz, die Atmung ist flach. Hier sehen wir, dass der Geist und der Körper sehr wohl miteinander in Kontakt stehen und sich dadurch gegenseitig beeinflussen können. Was wird also passieren, wenn wir die Körpersprache ändern? Der Blick ist oben, die Schultern sind hinten, die Brust ist vorne, die Atmung ist fließend ruhig, die Schritte groß! Würde es einen Unterschied machen?! Probieren Sie es aus, in welcher Haltung Sie sich selbstbewusster, selbstbestimmter und freier fühlen.

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Text: Ronny Klause / Fotos: Stockfoto/Symbolfoto
Copyright: Ibiza Kurier – Die deutsche Zeitung für Ibiza und Formentera 

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