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“Angst kann uns helfen, unsere Freiheit zu erhalten oder sie stark einschränken.”

IBIZA KURIER-Interview mit dem auf Ibiza lebenden Psychotherapeuten Ingmar Hansch

Angst vor dem Sterben, Angst vor der Zukunft, Angst um die Familie – selten war Angst in unserer Gesellschaft präsenter als in Corona-Zeiten. Wie sie entsteht, inwieweit sie notwendig ist und wie sie zu einem Motor für Veränderung und persönliches Wachstum werden dann, darüber sprechen wir im IK-Interview mit dem auf Ibiza lebenden Psychotherapeuten Ingmar Hansch. 

Buenos días Ingmar! Im allgemeinen und im therapeutischen Sprachgebrauch – womit haben wir es bei Angst zu tun? 

Angst ist ein Gefühl, das durch die Bewertung einer Situation hervorgerufen wird und eines der treibenden Faktoren für destruktives, aber auch arterhaltendes Verhalten ist. Die individuell verschiedene Situationsbewertung kann jeweils nach Person und Charakter verschiedene Ausprägungen von Angstzuständen erzeugen. Diese können jedoch, wenn sie nicht gelöst werden, auch unbewußte, verdeckte Mechanismen auslösen und in Situationen auftreten, wo sie nicht zum Auslöser passen, z.B. diffuse Angstzustände.

Angst ist wie die Liebe eine der Basisemotionen, welche negative und nicht selbstgesteuerte Verhaltensweisen erzeugen und sich in Wut, Hilflosigkeit, diversen Persönlichkeitsstörungen, Zwängen oder Phobien manifestieren kann.

Angst hat sich über die letzten Jahrzehnte verschoben. So haben zum Beispiel, durch die Wissenschaft greifbar gemacht, Naturphänomene, welche früher Unwohlzustände erzeugten, etwa Sonnen- und Mondfinsternisse oder Sternschnuppen, heute auf uns einen faszinierenden Charakter.

Wie unterscheidet man, ob man es mit einer realen oder einer “eingebildeten” Angst zu tun hat?

Die Wissenschaft unterscheidet zwischen zwei Grundformen der Angst. Die “reale“ und die “hypothetische“ Angst. Bei der realen Angst gibt es immer Lösungsmöglichkeiten. So ist zum Beispiel die Angst, welche man erlebt, wenn sich ein schnell fahrendes Auto direkt auf einen zubewegt, auch mit Handlungslösungen verbunden. Man kann stehenbleiben, nach links oder rechts zur Seite springen, sich flach auf die Straße legen, versuchen, über das Auto zu springen, und so weiter. Man sieht schon, das nicht alle Lösungen gleich gut sind, aber es sind Verhaltensmöglichkeiten, anders als bei “hypothetischen“ Ängsten. 

Die beginnen oft mit ‘Was wäre, wenn…?’ – der Klimawandel kommt, ich meinen Beruf verliere, krank werde, nicht geliebt werde, und so weiter. Da es sich hier um Annahmen handelt, welche vielleicht so nicht eintreffen werden, gibt es auch keine direkten Lösungen. Die Konsequenz ist, dass sich das Denken im Kreis dreht und zu Paralysen führen kann, also zur Handlungsunfähigkeit. 

Wie wichtig war oder ist Furcht für das Überleben? 

Angst ist heute auch noch für das Überleben notwendig: Angst vor unsicheren Gebäuden, gefährlichen Höhen oder dunklen, einsamen Strassen. Die Angst kann uns helfen, unsere Freiheit zu erhalten, oder – wenn sie nicht zu Lösungen führt – sie stark einzuschränken, wenn sie einen zu großen Platz in unserem Leben einnimmt und uns dadurch behindert. 

Furcht reaktiviert unter anderem Teile des Stammhirns, ein Bereich, wo kein oder kaum freier Wille herrscht. Die Angst kann so groß werden, das wir anfangen zu zittern, die Muskeln ballen, versuchen, zu flüchten oder vor Schreck erstarren. Dies sind uralte Überlebensmuster, welcher der Spezies Mensch immer geholfen haben. Heutzutage geht es weniger um das pure Überleben, sondern um das Finden von Lösungen.

Was, wenn Angst zum Dauerzustand wird?

Angst kann abhängig machen. Viele sind deshalb süchtig nach Neuigkeiten, insbesondere negative, weil dadurch – wie auch bei bestimmten Drogen und Belohnungen – Dopamin im Gehirn ausgeschüttet wird. Eine Art Nervenkitzel. 

Angst wird oft mit Schwäche gleichgesetzt. Kann man sie auch als Stärke sehen?

Angst ist ein Gefühl und wie alle Gefühle sind diese weder gut oder schlecht, sondern geben uns Rückmeldungen auf unsere Umwelt oder unser inneres Seelenempfinden. Die Bewertung dieser Gefühle und Situationen können bewusste oder unbewusste Handlungen hervorrufen, welche unsere Position stärken oder schwächen. 

So kann Angst lähmen, aber auch motivieren. Sie kann eine Motivation zur Neubetrachtung einer Situation und damit zu einer erhöhten Erfolgschance führen.

Eine Person, welche ihre Ängste bewusst wahrnimmt und erkennt, dass die Angst aufgrund eines Problems entstanden ist, wird in Lösungen denken. Die Art der Lösung bedingt die Stärkung oder Schwächung.

Wie drückt sich Angst auf der körperlichen Ebene aus?. Welche Prozesse startet unser Organismus, wenn wir Angst empfinden? 

Zuerst nehmen wir eine Situation wahr und bewerten diese. Dies ist erst einmal ein rein intellektueller, also vom Gehirn auch automatisch vorgenommenen Prozess, und zwar im Pre-Cortex hinter der Stirn. Fällt diese Bewertung für uns negativ oder positiv aus, so kommt es zu einer emotionalen und dann zu einer körperlichen Reaktion. Die negative Reaktion ist immer mit dem Anhalten des Atems verbunden, also einer Verringerung des Sauerstoffs im Gehirn. 

Dies wird als Gefahr für das Gehirn angesehen. Dadurch kommt es zu einer Ausschüttung von Stresshormonen über Leber und Nebenniere, welche den Blutdruck und Herzfrequenz erhöhen. Diese Impulse werden wieder von Gehirn wahrgenommen und es kommt zu einer verstärkten Ausschüttung von Stresshormonen. Das System schaukelt sich so immer weiter auf, dass es zu Panikattacken kommen kann. 

Woher kommt die Angst vor so unbestimmten Dingen wie dem “Fremden” oder dem “Neuen”?

Wir Menschen sind, wie viele Tiere auch, Gewohnheitswesen. Wir möchten nicht, dass sich viel verändert. Selbst wenn wir nicht glücklich sind, aber noch nicht genug leiden, verharren wir oft in diesem Zustand. Angst vor Veränderung, aber warum? Weil wir oft nicht abschätzen können, inwieweit diese Veränderung für uns nützlich ist. Wird es besser, schlechter, oder anders? Verliere ich noch das wenige, das ich habe? So haben auch Menschen mit viel Besitz oft die größere Angst vor nicht kontrollierbaren Veränderungen, da sie viel zu verlieren haben.

Ein großes Tabuthema in der modernen Zeit scheint der Tod zu sein. Wie können wir mit der Angst vor dem Sterben umgehen?

Wie bereits angesprochen, haben wir Angst – die einen mehr, die anderen weniger – vor Veränderung der Gewohnheiten. So steht hinter jeder Gewohnheit, hinter jedem Dogma, also einem ungeschriebenen Gesetz, nach denen manche Menschen handeln, und jedem Fanatismus, immer auch eine Angst vor der Wandlung und der Vergänglichkeit, letztlich die Angst vor dem Tod. 

Die Todesangst ist eine tief verwurzelte Urangst, welche in todesnahen Situationen einen unglaublich starken Überlebenswillen aktiviert. 

Wie können wir damit umgehen? 

Ein gesundes philosophisches Weltanschauungssystem, sich eingebettet fühlen in etwas Größerem, das Gefühl, selbst das ‘Lenkrad’ des Verhaltens in der Hand zu halten und der Versuch, in bestmöglichem Frieden mit sich und den anderen zu leben, sind gute Voraussetzungen für einen entspannten Umgang mit dem Tod.

Was ist der Unterschied zur akuten Todesangst, die viele Menschen auf der ganzen Welt angesichts der Corona-Seuche in eine Massenpanik verfallen ließ?

Hier kann man von hysterischem Verhalten sprechen. Die Hysterie zeichnet sich durch eine neurotische Verhaltensweise aus, mit oberflächlichen, schwankenden Gefühlsausbrüchen und hohem Geltungsbedarf. Natürlich darf man die Rolle der Medien hier nicht außer Acht lassen und auch deren psychologische Beeinflussung auf die seelische Verfassung, gepaart mit willkürlich empfunden Anordnungen im eigenen Umfeld.

Besonders in solchen Situationen hilft es, sich zu besinnen, mit klarem Verstand eine eigene inneren Verhaltensebene zu schaffen, welche einem Ruhe und Gelassenheit in diesen schwierigen Zeiten gibt.

Hast Du Tipps oder Übungen parat, mit denen man reagieren kann, wenn man – aus welchem Grund auch immer – ein “flaues Gefühl” im Bauch bekommt?

Erst einmal ruhig durchatmen, damit Sauerstoff ins Gehirn transportiert wird. Die Aufmerksamkeit nach außen lenken, die Situation betrachten und Informationen sammeln. Dann abwägen und die Logik und die Emotionen gleichberechtigt wahrnehmen. Aus dieser Mitte ruhig und entschlossen handeln.

Auch Musik hat großen Einfluß auf unsere Gefühle und wird seit tausenden von Jahren zur Stimulanz, aber auch zu Beruhigung verwendet. Als Musikproduzent habe ich unter dem Label ‘Therapeutic-Music’ Musik veröffentlicht, welchen Menschen bei Angstzuständen, Konzentrations- und auch Partnerschaftsproblemen hilft. 

Auf welche Warnsignale sollte man achten?

Viele kümmern sich besser um ihr Auto als um ihre Seele: Jedes Jahr ein Ölwechsel und bei bestimmten Kilometerständen ab zum Service, aber bei unsere Psyche warten wir oft, bis fast nichts mehr geht. Im Psychotherapeutischen spricht man vom Leidensdruck. Ist dieser groß bis unerträglich, sollte man Hilfe von professioneller Seite holen. 

Es wäre ratsam, in regelmäßigen Abständen, etwa einmal pro Jahr, einen Check bei einem Therapeuten durchzuführen, bevor die ‘rote Motorlampe’ leuchtet und Verhaltensmuster gewohnheitsmäßig einstudiert werden.

Vielen Dank für Deine Zeit und das interessante Gespräch!

Das Interview führte Friederike Diestel 

Zur Person 

Ingmar Hansch lebt seit dem Jahr 2000 auf Ibiza. Seit 1994 arbeitet er als Musikproduzent für deutsche und internationale Plattenfirmen und Fernsehsender. 2012 hat er zusätzlich nach dreijähriger Ausbildung seine Approbation durch das Kölner Gesundheitsamt zur Ausübung des Psychotherapeuten nach dem Heilpraktikergesetz erlangt.

Seit 2013 arbeitet er als kognitiver Verhaltenstherapeut mit den Schwerpunkten Überwindung von Depressionen, Traumatas, Angstzustände, Selbstwertproblemen und auch im Bereich der Lebenssinn-Findung. Kognition ist die Aufnahme und Bewertung von Informationen, also das, was um uns herum geschieht, und das daraus resultierende Verhalten.

Webseite: www.life-coach-ibiza.com 

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Text: die / Fotos: privat/S.Hofschläger(Pixelio.de)
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